S. Kuert: Demokratie im Herzen der Schweiz

Titel
Demokratie im Herzen der Schweiz. Zum 100-Jahr-Jubiläum des Gemeindeparlaments Langenthal 1919 – 2019


Autor(en)
Kuert, Simon
Erschienen
Langenthal 2019: Stiftung zur Förderung wissenschaftlich-heimatkundlicher Forschung der Stadt Langentha
Anzahl Seiten
172 S.
von
Daniel Weber

Die Stadt Langenthal zählt mit ihren rund 16 000 Einwohnern zu den zehn bevölkerungsreichsten Gemeinden des Kantons Bern und ist das wirtschaftliche Zentrum der Region Oberaargau. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich eine Reihe von Textilbetrieben im Ort angesiedelt und Langenthal zu einem wichtigen industriellen Produktionsstandort gemacht. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs kamen zahlreiche Unternehmen und Betriebe der Maschinenindustrie sowie des Bau- und des Nahrungsmittelsektors hinzu, darunter die 1906 gegründete Porzellanfabrik. Der wirtschaftliche Aufschwung hatte auch gesellschaftliche Auswirkungen: Die Bevölkerungszahl stieg bis 1920 stetig auf über 6000 Einwohnerinnen und Einwohner an, gleichzeitig entstand mit der wachsenden Industriearbeiterschaft ein sozialdemokratisches Milieu, das sich 1907 politisch in der Arbeiterunion Langenthal und Umgebung zusammenschloss.

Die Arbeiterunion reichte 1917 eine Initiative zur Einführung des Proporzverfahrens für die Wahl der politischen Behörden in Langenthal ein. Das neue Wahlrecht sollte der organisierten Arbeiterschaft eine angemessene Mitgestaltung der Gemeindepolitik ermöglichen, die bis anhin weitgehend von wohlhabenden Unternehmern und Gewerblern bestimmt worden war. Die Initiative mündete in der Schaffung eines 40-köpfigen Grossen Gemeinderats, der im März 1919 erstmals tagte und damit zu den ältesten der insgesamt 23 Parlamente im Kanton gehört. Seine Mitglieder wurden im Gegensatz zum Gemeinderat im Proporzverfahren gewählt. Die Linke (Sozialdemokraten und Grütlianer) vermochte bei den ersten Parlamentswahlen im Februar 1919 gleich 17 Sitze zu erringen. Als stärkste Partei ging jedoch die Neue Bürgerpartei aus den Wahlen hervor: Mit 21 Mandaten erreichte sie gar die absolute Mehrheit im neuen Parlament.

Kenntnis- und facettenreich beschreibt Autor Simon Kuert die Entstehung des Grossen Gemeinderats vor dem Hintergrund der zunehmenden politischen Polarisierung zwischen bürgerlichen und linken Kräften in der Schweiz vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg. Als ehemaliger Pfarrer, langjähriger «Stadtchronist» und Herausgeber der Langenthaler Heimatblätter ist der Autor ein ausgewiesener Kenner der Langenthaler Lokalgeschichte. 2013 wurde er mit dem Kulturpreis der Stadt ausgezeichnet, 2020 erhielt er das Ehrenbürgerrecht. Entsprechend versiert und abwechslungsreich zeichnet er in seiner Jubiläumsschrift die Entwicklung des Stadtparlaments in den vergangenen 100 Jahren nach. Dabei erfährt man, wie die politischen Lager in der Zwischenkriegszeit gemeinsam eine «fruchtbare Diskussionskultur» entwickelten, die Sozialdemokraten bei den Gemeindewahlen im Dezember 1944 bei einer Stimmbeteiligung von nahezu 88 Prozent die Mehrheit gewannen und nach nur einer Legislatur wieder verloren und dass 1968 erstmals drei Frauen ins Langenthaler Parlament gewählt wurden, wobei Marie Schaffer-Murri gleich das beste Ergebnis aller Gewählten verzeichnen konnte. Ausführlich beleuchtet werden weiter die zunehmende parteipolitische Ausdifferenzierung der Parlamentszusammensetzung ab 1970, die in wechselnden Konstellationen bis heute anhält, und die Parlamentsarbeit seit 1997, als der Grosse Gemeinderat mit der neuen Stadtverfassung in den «Stadtrat» übergeführt wurde.

Bemerkenswert ist, dass sich die Jubiläumsschrift nicht auf die Darstellung der Geschichte des Parlaments und seiner institutionellen Entwicklung beschränkt, sondern darüber hinaus die gesamte Stadtgeschichte Langenthals seit 1900 in den Blick nimmt. Der Autor spürt unter anderem der Entstehung der lokalen politischen Parteien nach, beschreibt Ortsplanung und Ausbau der Infrastruktur in der Nachkriegszeit und berichtet ausführlich über den spektakulären Verkauf von Aktien der onyx Energie AG an die BKW 2006, der 104 Millionen Franken in die Stadtkasse spülte. Dabei versteht er Parlamentsarbeit in eigenen Worten auch «als Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung » und zeigt, wie sozialpolitisch umstrittene Themen ihre Spuren auf lokalpolitischer Ebene hinterliessen. Auffallend ist dabei die hohe Bedeutung von Migrationsthemen wie Einbürgerung, Minarettverbot und Sozialhilfemissbrauch, die in Langenthal leidenschaftlich und kontrovers debattiert wurden. Durch die Wahl eines Vertreters der rechtsnationalen PNOS (Partei National Orientierter Schweizer) ins Parlament 2004 machte die Stadt gar national und international Schlagzeilen. Ausführungen des Autors zu möglichen Ursachen dieser Entwicklung sucht man allerdings vergeblich. Gerade vor dem Hintergrund der berechtigten Feststellung, dass feste ideologische Positionen in der Lokalpolitik an Bedeutung verloren haben, wäre eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Frage nach der vergleichsweise grossen Resonanz rechtsnationaler Kräfte und Argumente in Langenthal interessant und wünschenswert gewesen.

Das tut dem ausgezeichneten Gesamteindruck des Buchs jedoch keinen Abbruch. Ergänzende Porträts von bedeutenden politischen Persönlichkeiten aus der Historie Langenthals und ausführliche Erinnerungen und Erfahrungsberichte früherer Gemeinde- und Parlamentspräsidenten machen die Jubiläumsschrift zu einer vielfältigen und anregenden Lektüre. Auch die unaufdringliche Gestaltung des Buchs mit Grafiken und historischem Bild- und Quellenmaterial ist informativ und sehr gut gelungen. Zusätzlich enthält die Jubiläumsschrift Verzeichnisse der Gemeindepräsidenten seit 1895, von allen bisherigen Ratspräsidentinnen und Ratspräsidenten (93) und von allen Parlamentsmitgliedern seit 1919 (rund 600) mit Berufsbezeichnung und Parteizugehörigkeit, was sie auch zu einem nützlichen Nachschlagewerk macht. Und zu guter Letzt schliesst sie mindestens teilweise die Lücke in der Forschung zur politischen Entwicklung Langenthals, denn nach wie vor fehlt eine breit angelegte Stadtgeschichte, wie sie beispielsweise Biel oder Thun kürzlich vorgelegt haben.

Zitierweise:
Daniel Weber: Rezension zu: Kuert, Simon: Demokratie im Herzen der Schweiz. Zum 100-Jahr-Jubiläum des Gemeindeparlaments Langenthal 1919 – 2019. Langenthal: Stiftung zur Förderung wissenschaftlich-heimatkundlicher Forschung der Stadt Langenthal 2019. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 83 Nr. 1, 2021, S. 58-60.

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Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 83 Nr. 1, 2021, S. 58-60.

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